„Erst mussten die Norditaliener merken, dass ihr Gesundheitssystem nicht besser ist als jenes der Chinesen. Dann mussten die Spanier merken, dass sie genauso an ihre Grenzen stossen wie die Italiener. Und irgendwann werden auch die Schweden realisieren, dass ihre Taktik nicht besser ist als jene der anderen Staaten.„
Die Worte eines Arbeitskollegen meines Mannes im Zusammenhang mit der Corona-Krise bringen es auf den Punkt. Denn sie offenbaren unsere Schwächen im Kampf mit der Pandemie.
DAS Land, das dieser Tage den Aha-Effekt im Zusammenhang mit Covid-19 erlebt, ist Schweden.
Während die meisten Länder Europas in den vergangenen Wochen schmerzlich erfahren mussten, dass auch ihr Gesundheitswesen an seine Grenzen stösst, schien Schweden lange Zeit davon auszugehen, man könne dem Treiben der anderen Staaten gelassen zuschauen. Schliesslich wisse man, wie man am glimpflichsten aus der Krise heraus finde:
Indem man
- die Bevölkerung über 70 schütze
- und alle dazu anhalte, bei Krankheitssymptomen zu Hause zu bleiben.
That’s it.
Und so haben denn Ende März 2020 nach wie vor Kindergärten und Grundschulen geöffnet und gehen die Betreiber von Skigebieten nördlich von Stockholm grossmehrheitlich ihrem Alltag nach – mit Ausnahme der Einschränkung, dass inzwischen After-Ski-Parties verboten sind.
Mit der Schliessung des gesamten Skibetriebs jedoch tun sich die Besitzer schwer. Das Ostergeschäft steht vor der Türe. Und der Winter war kein richtiger. Entsprechend haben die Betreiber das Bedürfnis, in finanzieller Hinsicht wenigstens etwas an Boden gut zu machen – Corona-Krise hin oder her.
Negative Kommentare aus halb Europa
Das Vorgehen der Schweden führt innerhalb Europas zu kritischen Kommentaren. „Die Welt steht still. Nur in Schweden nicht“, titelte „Zeit online“ vor 3 Tagen. „Schweden scheut das direkte Verbot“, schrieb die NZZ. Und der deutsche Tagesspiegel kommentierte: „Schwedens Gelassenheit irritiert immer mehr.“
Wer Schwedens Kultur näher betrachtet, kann nachvollziehen, wieso sich der schwedische Staat mitsamt seiner Bevölkerung so verhält wie er dies aktuell tut:
Riesiges Vertrauen in den Staat
- Da ist zum einen das grosse Selbstvertrauen jedes einzelnen.
- Da ist zum anderen der nach Innen gerichtete Blick der Schwedinnen und Schweden – eine Verhaltensweise, die nicht nur jedem einzelnen eigen ist, sondern auch ganz generell für das Land und seine Orientierung nach Aussen hin gilt.
- Da ist aber auch dieses unglaubliche Vertrauen in Mutter Staat und ihre politischen Exponenten. Die Bevölkerung weiss: Der Staat schaut zu einem – in guten wie in schlechten Zeiten.
- Darüber hinaus agieren Schwedinnen und Schweden im Alltag gelassen und gehen haushälterisch mit ihrer Energie um. Dies führt zur Ansicht, was immer kommen möge, man werde es schon irgendwie meistern.
- Es überwiegt der Gedanke: Wer Kinder aus der Schule nimmt, kreiert neue Schwierigkeiten – soziale Vereinsamung, Lernrückschritte, Herausforderungen bei der Betreuung, da grösstenteils beide Eltern mehr oder weniger Vollzeit arbeiten.
- Schweden ist riesig. Viele Bewohner besitzen ein kleines Häuschen auf dem Land. Und wer nicht in einer der Hand voll grösseren Städte wohnt, kann zwangsläufig soziale Distanz umsetzen.
- Das Agieren ohne Druck seitens der Regierung führt dazu, dass die Bevölkerung von sich aus Abstandsregeln einhält und darum besorgt ist, die vulnerable Bevölkerung sowie Menschen über 70 zu schützen.
In diesem Kontext machen die eindringlichen Worte von Schwedens Ministerpräsident Stefan Löfven durchaus Sinn. Löfven wandte sich jüngst zur Prime-Time in einer halbstündigen TV-Rede an sein Volk. Jetzt gelte es, zusammenzustehen und soziale Distanz einzuhalten, sagte er. Es werde eine anspruchsvolle Zeit auf Schweden zukommen. Aber auf das schwedische Volk sei Verlass.
Gerade letzteres ist in Bezug auf die Pandemie vermutlich in der Tat ein entscheidender Vorteil Schwedens:
Was immer Mutter Staat verlauten lässt, wird umgehend und mehr oder weniger ausnahmslos umgesetzt.
Dieses Verhalten erlaubt es vermeintlich dem Staat, erst auf den allerletzten Drücker neue Massnahmen zu treffen.
Solche gibt es auch in Schweden – schliesslich sind inzwischen ebenfalls knapp 3000 Menschen mit dem Corona-Virus getestet worden. Und knapp 80 Menschen sind daran gestorben. Daher heisst das Gebot Schwedens zur Stunde (Stand 28. März 2020):
Nebst Kontakt-Vermeidung mit Menschen aus der Risiko-Gruppe und dem Aufruf, Personen ab 70 sollen zu Hause bleiben, gelten folgende Richtlinien:
- Ansammlungen ab 50 Personen sind verboten
- Krankenhäuser und Altersheime haben ein Besuchsverbot
- Wer sich ansatzweise krank fühlt, soll zu Hause bleiben
- In Restaurants wird nur noch am Tisch serviert, damit die Kolonnen an den Take-aways ausbleiben
- Après-Ski-Partys in den Skigebieten sind verboten
- Oberstufen und Gymnasien sowie Universitäten haben geschlossen
- Das Parlament hat ein Gesetz vorbereitet, das flächendeckende Schulschliessungen erlaubt
Gespaltenes Land
Ob diese Massnahmen reichen werden? Die Bevölkerung scheint in Bezug auf die Vorgehensweise gespalten zu sein.
Auf der einen Seite sind jene, die nicht verstehen können, warum nicht restriktivere Massnahmen ergriffen werden, wie in allen anderen europäischen Ländern. Auf der anderen Seite sind jene, die der Ansicht sind, was Schweden tut, sei genug und genau das Richtige.
Mehrheitlich einig ist man sich – zumindest hinter vorgehaltener Hand – dass die Kommunikation der Verantwortlichen zu wenig überzeugend ausfällt. Zwar geniesst der oberste Epidemiologe nach wie vor Respekt. Allerdings mehren sich Stimmen von Ärzten und anderen Epidemiologen, die davor warnen, es könnte in den nächsten Tagen und Wochen ein Tsunami über Stockholm und Schweden herein brechen.
Der Anschein trügt
Und so bemühen sich Behördenvertreter weiterhin an den Medienkonferenzen, Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen. Wer genau hinschaut, erhält jedoch von Tag zu Tag verstärkt den Eindruck, die Lage sei alles andere als entspannt.
Kommt hinzu, dass an diesen Medienkonferenzen in keinerlei Weise soziale Distanz vorgelebt wird. Nach wie vor stehen die entsprechenden Behördenvertreter quasi Schulter an Schulter, um die neusten Zahlen zu präsentieren und sich den zusehends kritischeren Fragen der Journalistinnen und Journalisten zu stellen.
Dabei wird offensichtlich versucht, Schritt für Schritt die Bevölkerung auf das vorzubereiten, was kommen dürfte. So hiess es noch vor einer Woche, man werde die Situation meistern und an den bisherigen Massnahmen festhalten. Um einen Tag später Stockholm zum Hot-Spot zu erklären, den es zu meiden gelte. Denn die Spitäler würden schon in wenigen Tagen an ihre Grenzen stossen.
In meinem Umfeld nimmt die Nervosität aufgrund dieser, für Aussenstehende schwer nachvollziehbaren Kommunikation, zu. So langsam dürfte es dem einen oder anderen dämmern, dass die Pandemie auch in Schweden angekommen ist, einfach mit einer gewissen Verzögerung.
Der spanische Arbeitskollege meines Mannes, der für eine italienische Versicherungsgesellschaft arbeitet, hat für die Strategie der Schweden nur eine abgeklärte Antwort übrig:
„Die Situation in Italien und Spanien haben wir hautnah miterlebt und uns Sorgen gemacht. Nun erfahren wir zum dritten Mal innert kürzester Zeit, was es heisst, wenn ein Land aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.“
Quellen: Cicero, Interview mit dem schwedischen Staatsepidemiologen (26.03.2020); The Local Schweden; NZZ, „Schweden scheut das direkte Verbot“, (24.03.2020); Zeit online, „Die Welt steht still. Nur in Schweden nicht“, (24.04.2020); pers. Interviews in Stockholm mit versch Vertretern; div. schwedische Nachrichtenportale