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4000 Corona-Opfer: Noch ist es zu früh, Schwedens Weg schlecht zu reden

Es ist eine verkehrte Welt. In der Schweiz (8 Mio. Einw.) mehren sich die Stimmen jener, die den schwedischen Weg (10 Mio. Einw.) in der Pandemie glorifizieren.

Gleichzeitig vermeldet Schweden über 4000 dem Corona-Virus zum Opfer gefallenen Personen. Dies sind mehr als doppelt so viele Todesopfer wie in der Schweiz (Stand 25. Mai). 

Tegnell: „Schrecklich“

Schwedens Staatsepidemiologe Anders Tegnell kommentiert entsprechend ernüchtert: «Es ist eine schreckliche Situation, in der wir gelandet sind.» Primär in den Altersheimen habe man die Situation zu wenig im Griff gehabt. 

Interessanterweise fühle ich mich – seit einem Jahr in Stockholm mit Familie wohnhaft – ausgerechnet jetzt eher durch das Verhalten vieler Schweizerinnen und Schweizer irritiert als durch jenes der Schwedinnen und Schweden.

Ende März konnte es vielen Schweizerinnen und Schweizer nicht schnell genug gehen mit Restriktionen. Die grosse Mehrheit verlangte nach hartem Durchgreifen des Bundesrates.

Und jetzt, zwei Monate später, vermelden die Schweizer Medien Party-Stimmung in der Basler Steinenvorstadt, muss die Polizei illegalen Fussballspielen einen Riegel schieben und demonstrieren dutzende Menschen aus unterschiedlichen Gründen gegen die harten Massnahmen während der Pandemie. 

Ganz anders sieht die Situation in Schweden aus. Hier gibt es keine Lockerungsschritte. Vielmehr wird der eingeschlagene Weg unbeirrt und unaufgeregt fortgesetzt. Das muss Schweden ja auch: Bei 4029 Todesopfern (25. Mai)!

Zwei Länder, zwei Strategien: Stand heute hat die Schweiz den besseren Job gemacht.

Die Schweiz hatte einen Lockdown mit massiven Einschränkungen für alle erlassen. Die Schweden hingegen setzten von Anfang an auf Empfehlungen und einige wenige Restriktionen.

Erstaunt nahm das Ausland den schwedischen Weg zur Kenntnis und verwunderte sich über die gut besetzten Cafés in Stockholms Innenstadt von Ende März.

Doch der Schein trügt. Auch der schwedische Alltag hat sich verändert. Nach wie vor sind die Strassen leerer als vor der Pandemie, besuchen weniger Menschen die Innenstadt, arbeitet, wer kann, im Home-Office. Und die schlechten Konjunkturaussichten drücken auch auf das Gemüt der Schwedinnen und Schweden. 

Insbesondere bei der mittleren und älteren Generation ist das Bewusstsein spätestens seit Anfang April grösser geworden, dass sich alle an die Verhaltensempfehlungen der Behörden halten sollten. Und mit jedem Todesfall, der dazu kommt, erhöht sich dieses Bewusstsein.

Diesem sanfteren Vorgehen kann ich aktuell mehr abgewinnen als dem von einem Extrem ins andere Extrem driftenden Benehmen einiger Schweizerinnen und Schweizer.  Selbst wenn die Schweiz beinahe Virus frei zu sein scheint.

Vorteil für Schweden?

Die Frage, die mich aktuell umtreibt: Wird Schweden wenigstens Runde zwei besser überstehen – sollte es im Herbst oder im Winter zu einer zweiten Welle kommen? Schliesslich hat die Schweiz die Welle künstlich gedrückt.

Man müsste an sich davon ausgehen können. Und trotzdem ist dies alles andere als sicher.

Gemäss jüngster Studie (Stand Anfang Mai) sind gerade einmal bei knapp 10 Prozent der Bevölkerung im Hot-Spot Stockholm Anti-Körper im Blut gefunden worden.

Falls diese Zahl stimmt, hat Schweden gleich in mehrfacher Hinsicht auf die falsche Strategie gesetzt. 

  • Obschon Gastronomie und Geschäfte nie geschlossen waren, leidet auch Schweden in wirtschaftlicher Hinsicht massiv unter der Pandemie. 
  • Die hohe Mortalitätsrate und die verhältnismässig hohe Zahl an Neu-Infektionen haben die Nachbarstaaten Dänemark, Finnland und Norwegen dazu veranlasst, einer Öffnung der Grenzen zu Schweden skeptisch gegenüberzustehen. Das ist schlecht fürs Image.
  • Sollten tatsächlich erst knapp 10 Prozent der Stockholmerinnen und Stockholmer Anti-Körper im Blut haben, würde eine zweite Welle vor Schweden nicht Halt machen.

Kurz gesagt: Die Schweden tun mir im Augenblick leid. Allerdings ist es zu früh, jetzt den Kopf in den Sand zu stecken. Noch weiss niemand, wie lange der Wettlauf dauern wird.

Gut möglich, dass sich der Mut der Schweden letztlich doch noch ausbezahlen wird. Wie sagt der Schwedische Staatsepidemiologe: „Wir stellen uns auf einen langen Weg ein.“ Und hierfür eigne sich Schwedens Strategie besser als mit kompletten Lockdowns, die für immensen Schaden sorgten.

Als Schweizerin mit Gastrecht in Schweden hoffe ich für beide Länder, dass sie bestmöglich aus dieser schwierigen Zeit herausfinden werden – mit der zum jeweiligen Land  passenden Strategie.

Denn Schweden ist nun einmal nicht die Schweiz und die Schweiz nicht Schweden. Dies fängt damit an, dass die Eidgenossenschaft umringt ist von aktuell stark unter der Pandemie leidenden Ländern und hört damit auf, dass Social Distancing im riesigen Schweden um einiges einfacher zu bewerkstelligen ist als in der kleinen Schweiz mit seiner ungleich höheren Bevölkerungsdichte.