Schweden will sich für eine zweite Welle rüsten. Dies sagt die schwedische Sozialministerin Lena Hallengren. Fragt sich: Von was für einer zweiten Welle sie spricht. Schliesslich hat die erste Welle ihre Talsohle noch nicht erreicht und erinnert daher wohl eher an einen afrikanischen Tafelberg.
Während die durchschnittlichen Neuinfektionen der vergangenen 14 Tage in fast allen europäischen Ländern zurückgehen, ist die Kurve der Schweden nach wie vor oben. Knapp 100 neue Fälle kamen im Schnitt pro 100’000 Einwohner in den vergangenen zwei Wochen dazu. Damit gilt das Land nach Definition des deutschen Robert Koch-Instituts nach wie vor als Krisenregion – bis zum Widerruf.
Dies hat halb Europa dazu bewogen, entweder die Grenzen für Schwedinnen und Schweden nicht zu öffnen oder zumindest für aus Schweden einreisende Personen eine Quarantäne anzuordnen.
Und nun spricht die Sozialministerin von einer zweiten Welle! Warum macht sie das? Ausgerechnet jetzt, wo die Fallzahlen in Schweden langsam sinken und die Schweden Urlaub in der Heimat verleben.
Oder sind die empfohlenen Verhaltensmassnahmen im Grunde genommen nichts anderes als weitere Vorsichtsmassnahmen angesichts einer nicht enden wollenden ersten Welle?
Wie auch immer: Neu ist die Empfehlung an alle Bewohner, diesen Sommer «keine neuen» Menschen zu treffen. Und ebenfalls seit dieser Woche gilt die Regelung für Restaurantbesitzer, Tische einen Meter auseinanderzustellen.
Warum solcherlei Massnahmen erst jetzt ergriffen werden, mag dem übrigen Europa rätselhaft erscheinen. Doch auch die Schweden, die schärfere Massnahmen befürworten würden, mögen ob solcherlei Ratschlägen zu einem solch späten Zeitpunkt den Kopf schütteln.
Corona führt zu Familienkonflikten
Längst haben sich innerhalb der Gesellschaft zwei Lager gebildet und kommt es in Familien zu bösen Streitigkeiten: Da sind jene, die den schwedischen Behörden rund um Ministerpräsident Stefan Löfven den Rücken stärken.
So etwa eine Mitarbeiterin von Staatsepidemiologe Anderes Tegnell, die im persönlichen Gespräch meint: Wenn jemand ohnehin schon Mehrfacherkrankungen verzeichne und über 80 Jahre alt ist, sei es doch richtig, dass man bei einer Covid-19-Ansteckung nicht alle Hebel in Bewegung setze, um diese Person zu retten.
Da sind andere wie beispielsweise die schwedische Virologin und Schriftstellerin Lena Einhorn vom Karolinska-Institut in Stockholm, die den schwedischen Weg als «Verzweiflungstat» bezeichnet und den Rückhalt Tegnells in der Bevölkerung wie folgt zu erklären versucht: Jeder Schwede trage halt etwas vom schwedischen Staatsepidemiologen in sich – ein positives Gen, das einem versichere, dass schon alles richtig kommen werde.
Fakt ist: Seit sich die Türen vieler europäischer Länder für Schwedinnen und Schweden seit einigen Wochen nicht mehr öffnen lassen und Quarantänen für aus Schweden Einreisende anberaumt werden, wird die Stimmung in Schweden selbst zusehends gedrückter. Da nützen auch die Kleinflugzeuge wenig, die dieser Tage mehrfach als Zeichen der Hoffnung Herz-Formationen über Stockholm fliegen.
Insbesondere auch die Tourismusbranche leidet.
So hat erst gestern die Schiffslinie Eckerö ihre Birka Cruises eingestellt. «Es ist in absehbarer Zukunft kein profitables Geschäft möglich», wird begründet. Für beinahe ein halbes Jahrhundert ist Birka Cruises zwischen Stockholm und Mariehamn auf den Åland Inseln verkehrt. Jetzt ist Schluss damit. 500 Personen verlieren ihre Stelle.
Es ist nicht der erste Betrieb, der aufgeben musste, und es wird nicht der letzte sein.
Die aufgeheizte Stimmung bekommen auch die vielen Expats zu spüren, die nach wie vor im Land sind. Wer mit Gesichtsmaske einkaufen geht, der bekommt öfters die geballte Ladung an innerer Gespaltenheit und Verzweiflung in Form eines aggressiven Verhaltens gegenüber Ausländern zu spüren. Da genügt es bisweilen sogar, am nicht schwedischen Akzent erkannt zu werden.
Wo bleiben die aktuellen Zahlen?
Nicht minder irritierend ist er Umstand, dass Schweden seine Covid-19- Zahlen aktuell sehr unzuverlässig publiziert. Ob ein Zusammenhang zur Einstufung Schwedens als Hochrisikoland besteht?
Der vorsichtige Aufruf von Ministerin Hallengren hinsichtlich allfälliger Vorbereitungen auf eine zweite Welle kommt da zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.
Ob Befürworter oder Gegner des schwedischen Weges ist einerlei: Alle dürften mittlerweile müde sein ob der ausländischen Restriktionen, der ständigen Wachsamkeit im öffentlichen Leben, der politischen Diskussionen, der schlechten Wirtschaftsprognosen und des Imageverlustes Schwedens.