Schwedens Schuljahr 2020/2021 hat begonnen, so wie es aufgehört hat: Mit Präsenzunterricht im Schulzimmer.
Dabei gelten dieselben Richtlinien wie seit vergangenem Frühling, als sich das Corona-Virus in Schweden auszubreiten begann.
- keine Eltern auf dem Schulgelände
- keine Willkommensapéros
- Elternabende und Elterngespräche finden online statt
- strikte Hygiene-Massnahmen auf dem Schulgelände
- kein
eAufenthaltenach Ende des Schulunterrichts auf den Pausenplätzen - wer sich unwohl oder gar krank fühlt, bleibt zu Hause
Ein Masken-Obligatorium ist derzeit kein Thema. Der Staat erachtet es als zu schwierig, Kindern und jungen Erwachsenen den Umgang mit den Masken korrekt zu lernen.
Unsere beiden Kinder im Alter von 9 und 12 Jahren haben sich an die Regeln in Schweden gewöhnt. Und sie erstatten uns ungefragt regelmässig Rapport, wer sich im Klassenverband unwohl gefühlt hat oder gar dem Unterricht fern blieb. So geschah es bereits in der ersten Schulwoche, weswegen sich unsere Tochter ernsthaft Sorgen machte.
Was beiden Kinder nicht bewusst ist: Den Schulen kommt in Schweden im Kampf gegen die Pandemie eine besondere Rolle zu:
- Schweden war eines der wenigen Länder, das Primar- und Oberstufenschüler ohne Unterbruch im Schulzimmer unterrichten liess – unter anderem wurde von Anfang an ins Feld geführt, man brauche die Mütter und Väter in Schlüsselfunktionen am Arbeitsplatz.
- Schweden war sich von Anfang an sicher: Kinder können zwar Träger und Überträger des Virus sein, ihnen selber droht jedoch im Regelfall keine ernsthafte Gefahr.
- Dabei gingen die verantwortlichen Experten davon aus, dass Kinder ihre Eltern anstecken können. Ja, eine Ansteckung in der Familie war sogar in gewisser Weise erwünscht. Auf diese Weise wollte man möglichst schnell zu einer hohen Durchseuchungsrate kommen.
Letzteres ist bekannt aufgrund des privaten Mail-Verkehrs des schwedischen Staatsepidemiologen Anders Tegnell mit ihm nahestehenden Personen, wie inzwischen publik wurde.
Insbesondere der dritte Punkt hat in Schweden in den vergangenen Wochen für ziemlich viel Aufregung gesorgt. Das ist wenig verwunderlich. Wer die Mails liest, erhält einen guten Eindruck davon, wie Schweden der Pandemie beizukommen gedachte.
Wie ein Tsunami sollte Covid-19 über das Land hereinbrechen und dabei die Nicht-Risiko-Gruppen immunisieren, derweil man die Risikogruppe zu Hause und in den Altersheimen zu schützen gedachte.
Inzwischen ist bekannt: Ausgerechnet die einzige Gruppe, die man schützen wollte, ist dem Virus zum Opfer gefallen. Was man weiss: Es waren die wechselnde Betreuung in den Heimen und eine in ungenügendem Ausmass vorhandene Schutzausrüstung zu Beginn der Pandemie, die unter anderem für die hohe Mortalitätsrate in den Heimen verantwortlich sind.
Grosses Interesse am schwedischen Weg
Fest steht, was immer Schweden tut, ist für andere Länder von Interesse. Denn Schweden hat sich getraut, einen eigenen Weg in der Pandemie einzuschlagen. Entsprechend interessant ist es für andere, mitzuverfolgen, wie DAS mit Schweden weitergeht. Und ob Schweden im Falle einer zweiten Welle besser da stehen wird aufgrund dieses etwas anderen Weges mit einer weniger restriktiven Handhabung.
Drei Punkte als Zwischenbilanz aus Sicht einer Expatfamilie:
- Die Übersterblichkeit war in Schweden in der ersten Jahreshälfte deutlich höher als in den vorangegangenen Jahren. Ja, seit 150 Jahren gab es nicht mehr so viele Todesfälle wie in der ersten Hälfte dieses Jahres. Kurz: Schweden bezahlt einen hohen Preis für seinen eingeschlagenen Weg.
- Schweden hat unter anderem die Schulen auch darum offen gelassen, um bewusst andere Familienangehörige anzustecken, um schnell eine Immunität in der Bevölkerung zu erreichen. Als wenig vertraut mit dem Gesundheitssystem, in einem fremden Land und ohne familiäre Einbettung ist es wenig Vertrauen erweckend, an einem Experiment mit ungewissem Ausgang teilzunehmen.
- Das mit der angestrebten Herdenimmunität ist fragwürdig. In der Schule unserer Kinder sind uns zwar einige Eltern bekannt, die positiv auf Covid-19 getestet wurden. Deswegen zu meinen, jeder sei immun, wäre allerdings verfehlt.
Es sind mir zu viele Familien bekannt – unsere inklusive – die mehrfach negativ getestet sind. Letzteres kann damit zusammenhängen, dass im vergangenen Frühling viele Expat-Eltern ihre Kinder aus der Schule nahmen und die Kinder im Home-Unterricht den Lektionen folgten. Ausserdem wurde der Hygiene im Schulhaus generell viel Aufmerksamkeit geschenkt und wurde darauf geachtet, Klassen auch auf dem Pausenplatz nicht zu durchmischen.
Doch selbst Studien aus dem Hotspot Stockholm zeigen, dass die Durchseuchung – Stand August – erst zwischen 20 und 40 Prozent betrug, was für eine allfällige Herdenimmunität nicht ausreichend ist.
Zumal nach wie vor unklar ist, inwiefern in jedem Fall nach erfolgter Krankheit eine Immunität besteht.
Eine Herdenimmunität als oberstes Ziel ist etwas, das Schweden bereits Anfang April abstritt je ins Auge gefasst zu haben. Vielmehr beteuerte man, man gehe den gleichen Weg wie alle anderen Staaten – einfach ohne Lockdown.
Dieses A sagen und insgeheim B verfolgen ist etwas, das man den Schweden im Geschäftsalltag nachsagt. Weder will noch kann ich beteuern, ob dem tatsächlich so ist. Zumal auch diese Charaktereigenschaft einen kulturellen Hintergrund haben wird. Es ist eine Charaktereigenschaft, die ich in der Tendenz eher als „Konflikt vermeidend“ bezeichnen würde.
Wie auch immer: Aus dem Mailverkehr mit Epidemiologe Tegnell geht ziemlich deutlich hervor: Schweden hat zumindest hinter verschlossenen Türen ernsthaft mit einer Herdenimmunität geliebäugelt.
Letzteres haben vermutlich viele Staaten, was nachvollziehbar ist. Nur war den allermeisten spätestens nach den schnell steigenden Fallzahlen klar, dass mit dieser Strategie sehr viele Todesopfer zu beklagen sein werden und der Preis alleine schon aus ethischen Gründen zu hoch sein dürfte.
Cluster statt flächendeckend
Was Tegnell und seine Berater im Anfangsstadion nicht wissen konnten, und was ihnen vermutlich einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, ist: Das Virus verbreitet sich nicht im Sturm, sondern in Clustern. Entsprechend ist eine Herdenimmunität doppelt schwierig hinzukriegen. Und entsprechend bin ich auch überzeugt, dass dies Schweden – selbst im Hotspot Stockholm – nicht gelingen wird.
Allerdings gibt es nach wie vor gewisse Teilaspekte, die viele Expats nach einem halben Jahr Corona als durchaus positiv bewerten.
Offen gelassene Schulen als grosser Pluspunkt
Interessanterweise betrifft einer dieser Punkte ausgerechnet die offen gelassenen Schulen.
Der Grund hierfür liegt in der Vermeidung einer sozialen Verarmung der Kinder während der Lockdowns und in der Verhinderung allfälliger Bildungsrückstände, die mittels Home-Schooling oder einem inexistenten Unterricht entstehen können. Die Tatsache, dass Millionen Kinder seit einem halben Jahr überhaupt keine Bildung mehr geniessen können, spricht für sich.
Unsere Kinder sind vergangenen Mai zurück ins Klassenzimmer gekehrt. Wie Schweizer Kinder haben sie in Schweden Fernunterricht genossen – hätten auf unseren Wunsch hin aber auch dem Unterricht im Klassenzimmer nachkommen können, so wie dies die meisten schwedischen Schulkinder ohne Unterbruch getan haben. Und wie es unsere Schulleitung Ende April verlangt hat. Augenfälliger Unterschied zur Schweiz: Der Übergang vom Unterricht im Schulzimmer zu jenem mit dem Computer zu Hause verlief problemlos. Schweden ist der Schweiz diesbezüglich einiges voraus.
Ausserdem wird die Bevölkerung konstant auf unaufdringliche Art darauf hingewiesen, man solle doch bitte Abstand halten. Auch dies wird vielfach als positiv erwähnt.
Gerade jüngst hatte ich eine Diskussion mit einer Studentin, deren Eltern in Stockholm wohnen. Sie selber hat den Beginn der Pandemie in New York erlebt und ist nun in Stockholm bei ihren Eltern bis zur Fortsetzung des Studiums in England.
Aus der Diskussion ging hervor, wie sehr sie die Art mag, wie Schweden die Pandemie in den Griff zu bekommen versucht. Da war wenig Kritik hinsichtlich einer allfälligen zu laschen Handhabung. Vielmehr lobte sie die natürliche Art, wie man mit Abstandsregeln dem Virus beizukommen versucht. Dabei erzählte sie auch von ihren Erfahrungen aus New York, und wie sie Angst hatte, selber am Virus zu erkranken und in der Pandemie Freunde verloren hat – Freunde auch im jüngeren Alter.
Sie ist nicht die Einzige mit Aussenperspektive, die den natürlichen Umgang der Schweden lobt. Viele, die etwas eingeschüchtert von der Medienberichterstattung über Schweden der Hauptstadt Stockholm trotzdem einen Besuch abstatten, stellen ähnliches fest und erwähnen es.
80-Jähriges Pärchen wagte die Reise in den Hotspot Stockholm
Gerade gestern sprach mein Mann mit einem über 80-Jährigen Pärchen, das die Wintermonate jeweils auf den kanarischen Inseln verbringt, seine Sommermonate hingegen in einer Sommerstuga in Stockholm. Das Paar liess sich nicht abschrecken, auch diesen Sommer nach Stockholm zu reisen. Es wurde wettermässig und aufgrund der wenigen Touristen für seinen Mut belohnt.
Dies, obschon beide der Risikogruppe angehören und einen Flug nach Stockholm in Kauf nehmen mussten. Es ist davon auszugehen, dass beide Schweden gut genug kennen um zu wissen: So furchtbar schlecht wie in den Medien teilweise dargestellt, wird es nicht sein.
Ich würde meinen, Recht haben sie! Weder ist es furchtbar schlecht, noch ist es lobenswert. Es ist einfach ein Weg, den die Schweden beschlossen haben zu gehen. Und den sie unbeirrbar weiterzugehen gedenken – Kritik hin oder her.
Später einmal werden wir wissen, wie die Strategie einzuschätzen ist.
Herzlich,
Simone Hinnen Wolf
Quellen: „thelocal“, „Spiegel“, div. schwedische Tageszeitungen