Gestern Schweden, heute die Schweiz. Ein Déjà-vu?
Was sich derzeit in der Schweiz abspielt, habe ich schon einmal erlebt: Im Frühling 2020 in Schweden. Ich würde deshalb meinen Schweizer Landsleuten dieser Tage gerne zurufen: Hallo Schweiz! Habt ihr nichts von den Schwed*innen gelernt?
Wisst ihr nicht mehr, wie ihr über den schwedischen Weg den Kopf geschüttelt habt. Könnt ihr euch nicht mehr an die Bilder mit den überfüllten Restaurants von Anfang März erinnern? Als sich alle Schlagzeilen zu Schweden ähnlich anhörten: „Die Welt steht still nur in Schweden nicht.“ (Zeit online)
Nur allzu gut kann ich mich an das „Schweden-Bashing“ erinnern, wie wir es hierzulande nannten? Die Liste der Kritikpunkte war lange. So lange, dass man sich schon beinahe wundern muss, wie lange Schweden dagegen hielt.
Gross war der Druck Europas auch auf die schwedischen Skigebiet-Betreiber. Ein zweites österreichisches Ischgl mit dutzenden von Ansteckungen während des Skiurlaubs wolle man auf keinen Fall erleben, hiess es damals. Entsprechend aggressiv war die Tonalität.
Und dann waren da auch noch die vielen Toten. Es waren mehrere Dutzend pro Tag – und dies über Wochen. Spätestens nach 3000 Toten wurde Schweden zur Buh-Nation Europas.
Über 7000 Todesopfer verzeichnet Schweden mit seinen etwas über 10 Mio. Einwohner aktuell. Das sind 2000 mehr als in der Schweiz (8 Mio.) mit ihren gut 5000 Verstorbenen (Stand Anfang Dezember 2020). Die Differenz war auch schon grösser.
Nun geht es nicht darum, einen Wettbewerb über die Zahl der Toten zu lancieren.
Doch damals im Frühling während dieser ersten Welle drehte sich vieles in Schweden um die Mortalitätsrate. Nicht wenige Schweizer*innen wollten von mir hören, dass Schweden versagt habe. Ich habe damals versucht, Gegensteuer zu geben. Habe auf die zweite Welle verwiesen. „Warten wir ab“, war einer meiner meist gewählten Sätze.
In der Zwischenzeit hat Schweden gelernt. Es hat verstanden, dass die Wirtschaft und die Angst um die Gesundheit stark zusammen hängen. Dass offene Bars und Restaurants zwar die wirtschaftlich schwierige Situation etwas abfedern können – aber nicht stark genug.
Selbst wenn viele Journalisten nach wie vor aus Schweden Bilder mit vollen Restaurants zeigen – die Gastronomie leidet. Das wird spätestens dann offensichtlich, wenn man durch Stockholms Strassen läuft und bei Restaurant-Besitzern nachfragt. Genauso leiden grosse Firmen wie beispielsweise die schwedische Kleiderkette H & M. Und ähnlich wie diesem Kleider-Riesen ergeht es all den kleinen Modegeschäften – und dies ganz ohne Lockdown.
Die Schweden wissen: Es ist das eine, an eine Strategie zu glauben und sie so gut wie möglich durchzuziehen. Es ist etwas anderes, sich über Image-Fragen hinwegzusetzen oder sie hintenanzustellen.
Die Kritik an Schweden hat Wirkung gezeigt. Und dies mehr, als die Schwed*innen vermutlich zugeben würden.
Auch darum zieht Schweden die Schraube an: Fast täglich folgen neue Restriktionen. Vor wenigen Tagen hiess es noch, Schüler*innen, die nicht mehr die obligatorische Schulzeit absolvierten, müssten grossmehrheitlich wieder ins Home-Schooling zurück. Wenige Tage später ist diese Meldung bereits wieder Geschichte. Fortan müssen alle Schüler*innen über 16 die Schulstunden bis Anfang Januar im Home-Schooling verbringen.
Die von vielen in Schweden geschätzte Langlebigkeit von Massnahmen ist der Hektik gewichen, so wie man das öfters in der Krisenkommunikation sieht, sobald sich die Krise verschärft. Für mich zeigt dieses Verhalten nur eines: Die Nervosität ist zurück.
Letzteres ist wenig verwunderlich: In Schweden ist nicht eingetroffen, was allgemein erwartet wurde. Und was man sich unter allen Umständen erhofft hat. Die Durchseuchungsrate ist nicht da, wo man sie aufgrund der gewählten Strategie erwartet hatte. Zudem sind viele Menschen im Spätherbst nachlässig geworden. Wen wunderts nach Monaten der Einschränkungen. Entsprechend steigen die Fallzahlen und mit ihr die Positivitätsrate.
Und in der Schweiz? Da zeigt man sich verwundert darüber, dass das Weltwirtschaftsforum WEF im kommenden Jahr in Singapur stattfinden könnte, nachdem die Positivitätsrate in der Eidgenossenschaft nach wie vor bei über 10 Prozent liegt.
Ich reibe mir verwundert die Augen. Die kleine Nation Schweiz mit ihren 8 Millionen Einwohner*innen und einer Fläche von 41.285 km2 richtet zwar den Blick gegen Aussen. Vergisst aber, dass sie von anderen ebenfalls beobachtet wird, nachdem sie im Zentrum Europas liegt. Zumal wir doch aus unserer Schulzeit wissen: Den Klassenprimus lässt man nie aus den Augen.
Dies mussten schon die Schweden (10 Mio. Einwohner*innen) innerhalb Skandinaviens begreifen. Sie, die sich ebenfalls als Klassenprimus sehen.
Erst jüngst steckten die Norweger*innen auf ihrem Hoheitsgebiet die ganze schwedische Ski-Nationalmannschaft in Quarantäne. Nun war das mit Sicherheit ein rein fachlich begründeter Entscheid. Und dennoch! Ein Augenzwinkern mag es vermutlich ausgelöst haben.
Gesundheit und Sicherheit haben für das Ausland oberste Priorität
Wenn ich eines als Expat gelernt habe, dann dies: Mit dem Gastgeber geht man insbesondere in Krisenzeiten hart ins Gericht. Dies betrifft vor allem die beiden Themen Gesundheit und Sicherheit. Fühlt man sich sicher, ist alles in Ordnung. Bestehen Zweifel, löst dies Ängste aus. Stärker als in der Heimat.
Dies gilt nicht nur für Expats. Auch Touristen, die beabsichtigen, ein Land zu besuchen, gewichten Gesundheit und Sicherheit prioritär. Und genauso tun dies all jene, die in Erwägung ziehen, sich für ein paar Jahre in einem neuen Land niederzulassen. Und weil jedes Land von der Mund- zu-Mund-Werbung einer zahlungskräftigen ausländischen Klientel profitiert, tun Länder gut dran, sich gut zu überlegen, welche Aussenwirkung sie erzielen wollen.
Das WEF und sein möglicher Abzug nach Singapur dürfte das erste sein, das die Schweiz empfindlich trifft. Mich würde es nicht wundern, wenn weitere Absagen aus dem Ausland mit ähnlicher Tragweite folgen würden.
Nun kann man argumentieren, das sei kurzfristig gedacht. Die wirtschaftlichen Konsequenzen aus Lockdowns hätten eine ganz andere Dimension. Dem stimme ich zu. Und dennoch habe ich gesehen, wie Schweden das ramponierte Image zugesetzt hat. Und wenn eines die Schweiz und Schweden verbindet, dann ist es der Stolz, zu den Besten zu gehören.
Anfang November hatte ich in diesem Zusammenhang ein interessantes Gespräch mit einem Schweden, der insbesondere in der Anfangszeit der Pandemie die Krisenbewältigung anderer europäischer Staaten äusserst kritisch beurteilte und den schwedischen Weg mit Stolz vertrat. Inzwischen sind Monate vergangen.
Derselbe Schwede zeigte sich jetzt von einer anderen, sehr nachdenklichen Seite. Es sei hart, von rundherum nur kritische Kommentare zu hören. Und ja, das Vertrauen in Schweden seitens der Nachbarstaaten werde derzeit auf eine harte Probe gestellt.
Dies müsste den Schweizer*innen zu denken geben.
Jedenfalls wünsche ich mir für meine Landsleute einen besseren Ausgang der Geschichte als ihn die Schweden erlebt haben. Noch sehe ich ziemlich unbeschwerte Schweizer*innen auf den Posts in den sozialen Medien.
Wenn sich in der Schweiz jedoch ausnahmslos alles wiederholt, was sich in Schweden abgespielt hat, so werden der Stolz und das Leuchten in den Augen der Schweizer*innen genauso verschwinden wie ich es bis im Juli 2020 bei den allermeisten Schwed*innen beobachten konnte.
Ich würde es den Schweizer*innen nicht gönnen. Aber ja, wie heisst es doch so schön: Wir müssen erst selber den Kopf anschlagen, bevor wir unsere Lehren daraus ziehen. Von daher: Ich bin gespannt, wie es mit der Schweiz weitergeht. Und wünschen beiden Ländern weiterhin nur das Allerbeste.
Herzlichst
Simone Hinnen Wolf
Quellen: Johns Hopkins University, the Local Sweden, Dagens Nyheter, statistica.com