Keiner meiner Artikel über die Pandemie aus dem Blickwinkel einer Schweizer Expatfamilie in Schweden hat für so viel Aufsehen gesorgt wie jener mit dem Titel «Schweden: Hallo Welt, wir zeigen euch wie es geht.»
Der Artikel aus dem Frühjahr 2020 traf damals den Nerv der Zeit. Schweden hatte es gewagt, dem neuartigen Coronavirus mit einer anderen Strategie zu begegnen als dies die meisten anderen Staaten taten. Es wollte keinen Lockdown. Es schloss seine Primarschulen nicht. Es liess die Restaurants offen, genauso die Bars und die Fitnesscenter – und wer Menschen mit Gesichtsmasken suchte, musste bis in den Dezember 2020 hinein lange danach Ausschau halten.
Damals, im März 2020, meinte mein spanischer Expat-Kollege, der ebenfalls wie wir in Stockholm wohnte und diesen etwas anderen Weg hautnah mitbekam:
«Erst mussten die Norditaliener merken, dass ihr Gesundheitssystem nicht besser ist als jenes der Chinesen. Dann mussten die Spanier merken, dass sie genauso an ihre Grenzen stossen wie die Italiener. Und irgendwann werden auch die Schweden realisieren, dass ihre Taktik nicht besser ist als jene der anderen Staaten.»
Spanischer Expat-Kollege
Heute, ein Jahr später, würde ich ihm Recht geben.
Dabei bin ich persönlich nach wie vor überzeugt: Der schwedische Ansatz beinhaltet durchaus auch positive Aspekte. Ich würde den schwedischen Weg denn auch nicht einfach als «failed» bezeichnen, wie dies König Carl XVI Gustaf erst kürzlich in seiner Weihnachtsansprache tat.
Dies will nicht heissen, dass ich ihm in der Tendenz nicht Recht gebe. Und schon gar nicht will ich ihn dafür kritisieren, sich so deutlich geäussert zu haben. Im Gegenteil: Ohne sein Votum wäre vermutlich nie ein Ruck durch das Land gegangen, wie es nun zu passieren scheint.
Seine Aussage kam für Schweden keinen Augenblick zu früh. Insbesondere das Nicht-Empfehlen zum Maskentragen hinterfragten viele Schwedinnen und Schweden mit zusehender Dauer der Pandemie zurecht. Je länger sie andauerte, umso unverständlicher wurde diese kritische Haltung, nachdem zahlreiche Studien einen Nutzen aufzeigten.
Unsere Familie beispielsweise musste mitansehen, wie Lehrer unserer Kinder (vor allem Middle School) ernsthaft am Virus erkrankten und für Wochen vom Schulunterricht ausfielen. Der Staat – allen voran Staatsepidemiologe Anders Tegnell – stand dem Maskentragen skeptisch gegenüber. Zwar gab es kein Verbot. Dennoch unterstützten die Schwedinnen und Schweden die Grundsatzhaltung, wonach Masken den Träger zum unvorsichtigen Verhalten motivieren könnten.
Nun aber hat der König ein Machtwort gesprochen. Ausgerechnet er, der sich nie zur Politik äussert – und wenn doch, dann ganz bestimmt nicht in der Öffentlichkeit. Andere Königshäuser handhaben dies ähnlich. Was jedoch Schweden von anderen Ländern unterscheidet, ist folgendes: Diese Handhabung gilt auch für die Bevölkerung. So sagte mir einmal eine Schwedin im Vertrauen: „Über unsere politische Gesinnung reden wir nicht. Und genauso wenig äussern wir uns öffentlich zur Politik.“
Entsprechend hat Carl XVI Gustaf’s Kritik Signalwirkung.
Und so ist es denn nicht wirklich erstaunlich, dass dieser Tage Sonderbares in Schweden passiert. Plötzlich sind Dinge möglich, die zuvor unmöglich schienen.
- Auf einmal trägt auf der Strasse nicht mehr nur einer von fünfzig Personen freiwillig eine Maske. Neuerdings ist es ungefähr jeder Vierte, wie mir meine kanadische Freundin beteuert, die Weihnachten in Stockholm verbracht hat. Und von Tag zu Tag scheinen es mehr zu werden.
- Auf einmal empfiehlt die Regierung von sich aus das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes im öffentlichen Verkehr – zumindest in den Spitzenzeiten morgens zwischen 7 und 9 Uhr sowie abends zwischen 16 und 18 Uhr. Dabei geben Beamte die Masken gleich selber gratis an die Passanten ab.
- Auf einmal will die Regierung ein Pandemiegesetz innert weniger Wochen im Parlament durchbringen. Dieses soll der Regierung wirksamere Instrumente zu Einschränkungen des öffentlichen Lebens in die Hand geben. Noch vor einigen Wochen hiess es, man müsse davon ausgehen, dass es März werden könnte, bis ein solches Gesetz installiert ist.
«Ho Ho Ho», würde ich sagen, wenn ich der Weihnachtsmann wäre. Hier hat der König aber seinen Landsleuten ein grosses Weihnachtsgeschenk gemacht.
Wie es scheint, hat Carl XVI Gustaf lange Zeit mit sich gerungen, bis er mit diesem harten Urteil an die Öffentlichkeit trat. Gemäss den jüngsten Zahlen der Gesundheitsbehörden sind in Schweden rund 7800 Menschen an Sars-CoV-2 gestorben – 1400 alleine im vergangenen Monat (Stand Ende Dezember 2020). Und die Kurve mit dem Infektionsgeschehen zeigt steil nach oben.
Womöglich wollte der König abwarten, ob Schweden nun tatsächlich besser durch eine zweite Welle kommen würde. So hatte es Staatsepidemiologe Anders Tegnell immer prophezeit. Seine Aussage fusste auf der Annahme, dass Schweden aufgrund der weniger restriktiven Massnahmen eine höhere Durchseuchung in der Bevölkerung haben würde. Und dieser Umstand dem Virus das Leben erschweren könnte. Zahlen von Mitte August zeigten jedoch: Die Immunisierung ist längst nicht da, wo man sie haben wollte. Studien aus dem Hot-Spot Stockholm zeigten einen Immunisierungsgrad von zwischen 20 und 40 Prozent auf, wobei der Prozentsatz je nach Quartier unterschiedlich ausfiel.
Tegnell selbst hat immer bestritten, eine Herdenimmunität anzustreben. Dabei waren seine Voten diesbezüglich eigentümlich. Auf der einen Seite verneinte er, je eine solche zum Ziel gehabt zu haben. Auf der anderen Seite konnte er es nicht lassen, stets auf ein besseres Ende für Schweden bei einer allfälligen zweiten Welle in Europa hinzuweisen.
Überhaupt hat Tegnell in den letzten Wochen an Glanz verloren. Galt bis vor kurzer Zeit sein Votum als absolut sakrosankt, ist er nicht mehr bei jeder Medienkonferenz anwesend. Der Staat scheint ihm die Lizenz über die Empfehlungen im Lande etwas entzogen zu haben.
Der Staatsepidemiologe begehrt dagegen auf. Wenig verwunderlich, galt er doch lange Zeit bei seinen Landsleuten als unantastbar. Der Bevölkerung war nicht entgangen, dass er innerhalb eines Jahres zu einem weltweit gefragten Experten avanciert war aufgrund des etwas anders ausgerichteten schwedischen Weges.
Vor wenigen Tagen dann tat Tegnell etwas erstaunliches. Er hinterfragte die Wirkung des in Schweden ausgerollten Impfstoffs von Pfizer-BioNTech in der Wirtschaftszeitung «Dagens Industri». Es sei noch sehr unsicher, wie die Impfstoffe in der Realität funktionieren würden.
Aus kommunikativer Sicht scheint seine Kritik alles andere als glücklich gewählt zu sein. So ist es das eine, innert Rekordzeit hergestellte und von den Behörden freigegebene Impfstoffe persönlich mit Fragezeichen zu versehen. Es ist jedoch etwas anderes, als öffentliche Person und erst noch als Experte diese kritische Haltung in der Öffentlichkeit kund zu tun, nachdem die Welt sehnsüchtig auf solche Impfstoffe gewartet hat.
Denn wenn sich selbst der oberste Epidemiologe skeptisch gegenüber einem solchen Impfstoff zeigt, was sollen dann erst seine Landsleute darüber denken. Zumal die Schweden ohnehin gegenüber solcherlei Impfungen kritischer eingestellt sein dürften als möglicherweise das Gros in anderen Staaten. Vor einigen Jahren kam es in Schweden zu Komplikationen bei Geimpften.
Es scheint also ganz so, als wolle Tegnell den Wettbewerb um das richtige Rezept gegen dieses Virus um jeden Preis gewinnen. Warum sonst begehrt er gegen alles auf, das nicht seiner Strategie entstammt? Oder hat er sich in diesem Jahr einfach zu sehr aus dem Fenster gelehnt und kann nun nicht mehr zurück?
Wie dem auch sei. Ich bin der Ansicht, Schweden hat in dieser Pandemie aller berechtigter Kritik zum Trotz einiges richtig gemacht. Und vieles davon dürfte Tegnell und seinen Mitarbeitenden zu verdanken sein. Wobei ich allerdings dem schwedischen Staat und seinen Entscheidungsträgern unterstelle, dass vieles anfänglich eher aus der Not heraus entstanden ist und weniger aufgrund einer von Anfang an klar skizzierten Strategie.
Dennoch: Persönlich bin ich Schweden
dafür dankbar, dass es die Schulen für Primarschüler offen liess.
dafür dankbar, dass es von Anfang an versucht hat, die Bevölkerung mit Empfehlungen durch die Pandemie zu führen. Dadurch haben ich und meine Familie gelernt, uns sehr gut zu informieren und unser Handeln stets zu hinterfragen. Dabei nahmen wir uns selber in die Pflicht und hätten vermutlich im Ernstfall nicht mit dem Finger auf einen Behördenvertreter gezeigt. Etwa, weil er via Medien einen Tipp gegeben hatte, der sich nun in der Realität als nicht praktikabel oder falsch erwies.
dankbar dafür, dass es keine Quarantäne-Liste führte, was uns die Möglichkeit bot, das eine oder andere Mal unsere Eltern in der Schweiz zu besuchen ohne bei unserer Rückkehr in Quarantäne zu müssen. Dabei sind wir jeweils vor unserem Besuch in eine freiwillige Selbstquarantäne gegangen und haben selbst danach sehr vorsichtig im Umgang mit anderen agiert.
dankbar dafür, dass der Staat von Anfang an zum Home-Office aufgerufen hatte, womit wir die Zahl der nicht notwendigen Kontakte zu unserem Guten reduzieren konnten.
dankbar dafür, dass die Massnahmen sehr übersichtlich waren und sich nicht laufend änderten.
dabkbar dafür, dass die Regierung Ruhe behielt und nicht ständig neue Massnahmen einführte.
Ich würde meinen, diese Aufzählung ist lange. Um ehrlich zu sein ist sie länger, als ich gedacht hätte. Denn im Grunde genommen habe ich vieles, das wir in Schweden erlebt haben, auch sehr kritisch beurteilt. Wobei wir uns stets bewusst waren, dass ein Grossteil der Massnahmen einen kulturellen Hintergrund hatte. Und es es unmöglich ist, Massnahmen des einen Landes mit jenen eines anderen Landes zu vergleichen.
Meinem spanischen Kollegen, von dem das anfängliche Zitat stammt, würde ich somit heute entgegnen:
«Ja, du hast Recht. Die schwedische Strategie war gegenüber diesem Virus auch nicht wirklich zielführend. Aber die Schweden haben zumindest dank einem beharrlichen, wenn nicht sogar sturen und von seiner Meinung überzeugten Staatsepidemiologen mit Ebola-Erfahrung verschiedene Massnahmen ausprobiert, die eine gewisse Wirkung zeigten. Und von deren Datenlage andere Staaten oder nachfolgende Generationen jetzt oder später profitieren könnten.»
In diesem Sinne,
Happy New Year
Auf ein besseres Jahr – für Schweden und für die Schweiz
Simone Hinnen Wolf
Quellen: The Local, Johns Hopkins University Data, Dagens industry